Jürgen Baldiga - Fotografien In nur knapp acht Jahren, von 1985 bis zu seinem Tod 1993, hat Jürgen Baldiga in überzeugender Subjektivität ein Bild seiner Lebenswelt geschaffen, das mit großer Prägnanz das Lebensgefühl einer kaum vergangenen Zeit dokumentiert. Unabhängig vom Galeriebetrieb erlangte der 1959 in Essen geborene Fotograf durch seine Veröffentlichungen: Bambule (1986), Jünglinge (1987), Tunten Queens Tantes - ein Männerfotobuch (1988) und Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal (1992) bereits zu Lebzeiten Aufmerksamkeit. Erst nach Baldigas Tod waren seine Arbeiten in größeren Ausstellungen auch außerhalb seiner Wahlheimat Berlin zu sehen (u.a.. in Amsterdam, Paris und Stuttgart). Dominiert Durch die Person Baldigas - sein offensives und öffentlichkeiteswirksames Auftreten als Schwuler, HIV-Positiver und Aidskranker - wurde seine schwarz-weiße Bilderwelt immer wieder mit denselben Etiketten bedacht. Ob als würdige Darstellung gesellschaftlicher Randgruppen gepriesen oder kritisiert als bloße Provokation - unter wechselnden Vorzeichen wurde Baldiga bald als Aids-Fotograf, Sozialkitiker, Schwulenkünstler oder Bürgerschreck verbucht. Der mit der Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien Berlin geboteneÜberblick über das gesamte Werk Baldigas sollte zeigen, welche Qualitäten seine Arbeiten aufzuweisen haben, die mit den häufig gebrauchten Schlagwörtern nicht erfaßt sind. Baldigas eindringliche Porträt-Kunst, die eigenwilligen pornographischen und inszenierten Fotografien sind nicht nur als persönliche Haltung, sondern auch als künstlerisches Konzept ernst zu nehmen. Die Ausstellung im Kunstforum der KPV ist zwar aus Platzgründen nicht so umfangreich wird aber dennoch deutlich machen das mit Baldiga ein " Klassiker " der Fotografie zu entdecken ist. Die vermeintliche Provokation von Baldigas Bildern ist bloß authentisch, ihre Authentizität bleibt als Stilisierung durchschaubar. Gegenstand der Fotografien von Baldiga ist der Zufall seines Lebens - vor allem die Menschen, die er beobachtete, die ihn anzogen und die auf ihn zukamen. Mit wechselnder Intensität blicken sie in seine Kamera und damit auf die Betrachter. Die radikale Neugier des Fotografen gilt dem Posieren seiner Modelle im spannungsreichen Spiel vor dem Objektiv, zwischen körperlicher Verfügbarkeit und dargestelltem Selbstbewußtsein. Beispielhaft für die Haltung Baldigas als Fotograf sind seine "Dirty pictures". Diese körperlichen Zurschaustellungen sind keine Inszenierungen nach der Regie des Fotografen. Bisweilen entspringen sie der Intimität zwischen Liebhabern, von denen einer im Bett eine Kamera gebraucht, oder sie dokumentieren die Selbstinszenierung des Modells. Das fotografische Bild ist Ergebnis eines gleichberechtigten Dialogs, der Ironie zuläßt. Dasselbe gilt für jene Porträtierten, die wie Baldiga selbst HIV-positiv oder an Aids erkrankt waren. Basis jener Bilder ist ein komplizenhaftes Einverständnis und nicht die Absicht eines Programms nach der Art "Aids hat ein Gesicht". Die Protagonisten, wie etwa Ikarus, der sich mit seinen Kaposis und Helferzellzahlen ausstellte, inszenieren sich selbst; sie haben ihre persönliche Botschaft, für die Baldiga den Bildträger geschaffen hat. In der Annäherung an Baldigas Werk folgt die Ausstellung Themengruppen, die sich zum Teil an seinen Veröffentlichungen (Bambule, Jünglinge, Tunten) orientieren und an Motiven wie Porträts, Selbstbildnisse oder szenischen Adaptionen von Gemälden Caravaggios. Neben einer Bestandsaufnahme des hinterlassenen Werks gilt ein zweiter Teil der Ausstellung der Rekonstruktion von Präsentationsformen, die Baldiga entwickelte: unter anderem die zu "Ikonen" gestalteten Porträts. Zur Ausstellung ist in der Edition OBJEKTIV ein Katalog (192 Seiten, ca. 210 s/w Abbildungen, 69 Mark) erschienen mit Texten von Chou-Chou de Briquette, Michael Brynntrup, Ines de Nil, Aron Neubert, Thomas Michalak, Ursli Pfister, Melitta Poppe, Napoleon Seyfarth, Ingo Taubhorn, Ruedi Weber; im Beiheft Aufsätze und Texte von Ulmann-Matthias Hakert, Tom Kuppinger und Frank Wagner. |